Susanne Prinz
Zwischen Kunst und Wirklichkeit

Seit Anfang des 17.Jahrhunderts werden Bilder, die ausschließlich in verschiedenen Grautönen ausgeführt sind, mit dem Terminus Grisaille bezeichnet. Obwohl Beispiele schon früher nachweisbar sind, scheint es vor diesem Zeitpunkt für sie keine spezifische Bezeichnung gegeben zu haben. Man nannte sie einfach ‚Bilder in Schwarz und Weiß’. Ihre Materialien waren so zahlreich wie die angewandten Techniken und reichten von der Glasmalerei über Fresken zur Buchmalerei. Nicht selten hatten sie den Zweck, ohnehin monochrome Skulpturen darzustellen. Ihr Ziel war die Augentäuschung. Tatsächlich ist die Erklärung der in einer bestimmten Position gefrorenen menschlichen Figur als Skulptur erheblich plausibler, als die eines lebendigen Menschen. Illusionsraum und realer Raum wurden so im Grisaille - wenn nicht identisch – so doch erheblich wesensnäher als beim farbigen Bild. Der Verzicht auf Farbe entwickelte sich im folgenden mehr und mehr zu einer reinen Demonstration malerischer Abstraktion. Im Trompe l’oil diente das Grisaille bald nicht mehr ausschließlich dazu, Stein darzustellen, sondern imitierte erfolgreich Zeichnungen, Stiche oder sogar Urkunden und Briefe. Im 19.Jahrhundert setzte man schwarz/weiße Bilder unter anderem als Vorstudien für Fotografien ein, die wegen der langen Belichtungszeiten notwendig waren. Der Bezug zur Fotografie blieb im 20.Jahrhundert erhalten und äußerte sich vor allem in den Bildern der Fotorealisten als eine Art medienspezifisches Trompe l’oeil. In diesem Sinne sind auch Sonja Webers Bilder zu verstehen, die ebenfalls offensichtlich nicht die Realität meinen, sondern bereits die von ihr abgeleitete Realität des Fotos. Wie schon die Grisailleskulpturen auf der Außenseiten des Genter Altars Hubert van Eyks besitzen Webers Wellen- und Wolkenbilder eine eigentümliche Lebendigkeit. Sowie man früher von lebenden Skulpturen sprach, fühlt man sich angesichts von Webers changierenden Oberflächen versucht von rollenden Wellen und dahinziehenden Wolken zu sprechen. Der Grund, weshalb jeder Wechsel des Standorts, jeder Wandel des Lichteinfalls ein neues Bild bringt, liegt in der ungewöhnlichen Technik, mit der die Künstlerin den klassischen Kanon monochromatischer Bilder erweitert: die Jacquardweberei.

Anni Albers, in deren Werk die Weberei immer gleichberechtigt neben anderen künstlerischen Techniken stand, schrieb über ihre Entscheidung, am Bauhaus in der Webwerkstatt zu beginnen: „Diese Weberei war eine Art Geländer für mich – die Einschränkung, die ein Handwerk mit sich brachte. Das war eine enorme Hilfe für mich, wie ich meine, dass es wohl für jeden sein kann, so lange als man, gleichzeitig, darauf aus ist, es zu durchbrechen.“ Beispiele aus der Zeit in Dessau belegen, wie Albers im Medium Weberei ein mindestens adäquates wenn nicht gar überlegenes Mittel fand, mit der reduzierten geometrische Formensprache und den modularen Strukturen der zeitgleichen Malerei zu experimentieren. In der Entwicklung serieller Ordnungsschemata scheint sie derselben gelegentlich sogar voraus gewesen zu sein.

Auch ohne die Geschichte des Verhältnisses von Malerei und Textilkunst im Detail aufzuschlüsseln wird deutlich, dass es ein Missverständnis wäre, eine überwiegend, aber nicht ausschließlich von Frauen getroffene Materialwahl unter produktionstechnischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Auch Sonja Webers im Licht changierenden, mit wechselnden Blickwinkel sich stets anders präsentierenden Arbeiten sind vor allem Teil der Kunstgeschichte. An den Arbeiten des frühen Fotorealismus und vor allem an den Bildern Gerhard Richters führt kein Weg vorbei. Der Aufbau der Reihe Linie 53, die Fotos, die entlang der Münchner Buslinie 53 entstanden, filmartig neben- und hintereinander montiert, erinnert an Andy Warhols Katastrophenbilder. Die Serie der Wellen- und Haarbilder verweist hingegen auf Traditionen der klassischen Moderne. Zwischen Gegenstand und Struktur oszillierend bezieht sich die Künstlerin hier auf die rationalistischen Tendenzen abstrakter Malerei und setzt mit den stets gleichen Formaten ein objektivierendes Element gegen die Suggestionskraft ihrer Oberflächen. Da darüber hinaus Bild und Bildträger, Motiv und Material identisch sind, ist es nicht so einfach, sich darüber zu verständigen, was der Inhalt von Sonja Webers Arbeiten ist und was die Form. Isolieren wir sonst bei der Betrachtung eines Bildes gewohnheitsmäßig Form und Nachricht, weil uns die Form - wie die Farbe auf der Leinwand - als vom Inhalt Getrenntes erscheint, das es separat zu untersuchen gilt, ist dies bei Sonja Webers Bildern nicht möglich. Statt dessen müssen wir mit dem Umstand vertraut werden, dass Signifikat und Signifikant gleichzeitig präsent sind. Eine Haltung, die sich im Grunde auf Duchamp zurück verfolgen lässt.

Auf die Tradition des Duchampschen Readymades, per Definition ein maschinell erstellter Gegenstand, greift Weber in ihrer künstlerischen Praxis auf verschiedenen Ebenen zurück, wie sie auch die Fotografie zur wichtigen Voraussetzung ihres Werkes macht. Trotzdem bleibt die Malerei konzeptueller Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit. Das erscheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Tatsächlich hat das Readymade die Gewissheit der endlosen Fortsetzbarkeit der Malerei nachhaltig erschüttert, während die Fotografie bereits einige Jahrzehnte zuvor Status, Praxis und Möglichkeiten der Malerei neu bestimmte, indem sie ihre Rolle als erstes Medium gesellschaftlicher Bildproduktion übernahm. Beide sicherten ihr umgekehrt aber eine neue Autonomie. Die Illusion des künstlerischen Schöpfungsaktes und ihre scheinbar von der Gesellschaft unabhängige Existenz war hinfort der herrschende Mythos. Diesen unterläuft Weber indem sie ihre künstlerische Arbeit auf die Auswahl der Vorlagen, die Festlegung von Ausschnitt und Format und die Bestimmung von Art und Farbton des Materials konzentriert. Letzteres spielt sich weitestgehend im Rahmen der Grauskala ab und selbst blaue und grünliche Töne erscheinen als materialbedingte Variationen der selbstbeschränkten Palette, die sich bis ins Weiß hinein auflösen und bis in Schwarz hinein verdunkeln kann. Wenn daher Gerhard Richter meint, dass alle Künstler, die sich mit der Reproduktion fotografischer Vorlagen beschäftigen, unabhängig von der Art und Weise wie sie dies tun, als Maler zu betrachten seien , so lässt sich diese Behauptung in den Bildern Sonja Webers bestätigt, stehen diese doch schon allein in der Auswahl ihrer Motive zweifelsohne in einer malerischen Tradition. So lassen sich Wolken- und Wellenbilder als Abstraktion epischer Vorläufer, Landschafts- und Seestücke, interpretieren. Vorrangig aber ist ihre chromatische Beschränkung als künstlerische Selbstreflexion, als Abstraktion der Farbe von der Farbe zu verstehen. Wenn Gerhard Richters malerische Umsetzungen fotografischer Schnappschüsse das Readymade in die Malerei einführte, dann dreht Sonja Weber ein weiteres Mal an der Repräsentationsschraube, indem sie nicht nur eigene Fotos als Bildvorlage wählt und dadurch den narzistischen Charakter der eigenen wie jedweder Kunst reflektiert, sondern zusätzlich die bildliche Umsetzung von Maschinen ausführen lässt. Bei ihren Arbeiten handelt es sich letztlich also um maschinell erstellte Bilder von bereits mechanischen Bildern, deren Orientierungsrahmen dennoch der des gemalten Bildes bleibt. Sie sind Versuche, den Anspruch der Bilder ohne Pinsel und Farbe zu konkretisieren. Im historischen Konflikt der Malerei des 20.Jahrhunderts zwischen ihrer Abbildfunktion und der Selbstreflexion gelingt es Sonja Weber beide Positionen eng zusammenzuführen, ohne sie gegeneinander auszuspielen.



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